Eine Geschichte über das Verhältnis von traditionellem und agilem Management
Hero ist ein Projektmanager – und ein sehr guter zudem. Er hat dutzende Projekte gemeistert; das letzte gerade erst gestern. Nun fühlt er sich entsprechend: erschöpft aber zufrieden.
„Ich sollte es heute etwas langsamer angehen lassen“, murmelt Hero zu sich selbst. Das letzte Wort ist noch nicht verhallt, da klingelt sein Telefon. Am anderen Ende ist sein Chef. Eigentlich Chefin. Er schätzt Frau Schäffer sehr. Jetzt lauscht er ihren kristallklaren Worten: „Hero, ich brauche Sie hier in meinem Büro – ich habe ein neues Projekt, dass nur Sie meistern können.“
Im Büro von Frau Schäffer nimmt das Gespräch dann einen unerwarteten Lauf.
Hero: „Was heißt, Sie wissen es nicht?“
Chefin: „Es heißt, dass ich es nicht weiß.“
Hero: „Wer weiß es denn dann.“
Chefin: „Weiß ich auch nicht. Vielleicht niemand.“
Hero: „Niemand?“
Chefin: „Vielleicht ist das so.“
Hero: „Aber irgendjemand muss doch sagen, wie genau das Endergebnis aussehen soll.“
Chefin: „Ja, Sie. Oder um genauer zu sein: Sie und Ihr Team.“
Hero: „Hm, Team. Und Budget, was ist mit dem Budget?“
Chefin: „Hero, die Sache ist wirklich wichtig. Und die Sache drängt. Sagen Sie mir einfach, wen und was Sie brauchen.“
Hero: „Für das Digitalisierungsprojekt hier ...“
Chefin: „Für das Digitalisierungsprojekt hier.“
Zwei Tage intensiven Nachdenkens vergehen. Der Koffeinpegel steigt, die Erkenntnisse lassen auf sich warten. „Vielleicht hilft noch mehr Kaffee“, denkt Hero und macht sich auf den Weg zur Maschine. Dort trifft er auf Anton. Mit Anton hat er vieles gemeinsam: Dutzende Projekte und ein Studium an der gleichen Universität. Anton ist einer der wenigen, die Hero in Projektdingen um Rat fragen würde. Auf jeden Fall freut er sich, ihn zu sehen.
Hero: „Hallo Anton, lange nicht gesehen. Wie geht es Dir?“
Anton: „Danke, gut. Aber sag‘, wie geht es Dir? Du siehst gestresst aus.“
Hero: „Erzähl‘ mir was Neues. Mir wurde die Verantwortung für ein neues Digitalisierungsprojekt übertragen. Wie Du weißt, haben wir vom Management den Auftrag erhalten, das Unternehmen für die Zukunft auszurichten und Konzepte zur Digitalisierung zu prüfen und umzusetzen. In meinem Fall muss ich bis Ende des Jahres die ersten Ergebnisse liefern.“
Anton: „Klingt nach einer interessanten Aufgabe.“
Hero: „Interessant ist die kleine Schwester von furchtbar.“
Anton: „Wieso furchtbar?“
Hero: „Seit zwei Tagen verzweifele ich daran, das zu tun, was gute Projektmanager eben so tun, nämlich Meilensteine und Arbeitspakete zu planen und für diese dann Ressourcen, Termine und Budget zu definieren. Klappt aber nicht, denn das konkrete Ziel ist heute noch nicht bekannt. Ich habe gestern eine Risikoliste aufgestellt, die wurde gefühlt zwei Meter lang. Das war eigentlich gar keine Risikoliste, sondern eine Liste von hunderten von Unbekannten.“
Anton: „Der Albtraum jedes Projektmanagers.“
Hero: „Wird noch schlimmer. Gleichzeitig müssen wir möglichst schnell implementieren, um die generelle Entwicklung nicht zu verpassen. Aber wie soll das gehen? Wie kann ich ein solches Projekt starten, bei dem der Inhalt und das Ergebnis nur zum Teil bekannt ist?
Anton: „No hope without scope.“
Hero: „Sehr witzig.“
Anton: „Im Ernst, mit klassischem Scoping kommst Du da nicht weiter.“
Hero: „Hmm.“
Anton: „Klassisches Scoping geht davon aus, dass die Ergebnisanforderungen – das „Q“ im magischen Dreieck – zu Beginn des Projekts definiert werden können. Heißt, das Management, der Auftraggeber oder welche Projektkunden auch immer, müssen Dir sagen können, welche Eigenschaften das Endresultat aufweisen sollen.“
Hero: „Was hier nicht der Fall ist.“
Anton: „So ist es. Typisch für alle Innovationsprojekte.“
Hero: „Was also tun? Ohne Q kein magisches Dreieck?
Anton: „Zumindest nicht im klassischen Sinne.“
Hero: „Sondern?“
Anton: „Versuch’s mal agil. Damit habe ich gute Erfahrungen gemacht. Agile Methoden können Projekte mit unklarer oder sich verändernder Anforderungslage in der Planung und Umsetzung sehr gut unterstützen.“
Hero zieht eine Augenbraue hoch: „Agil bin ich sowieso.“
Anton: „Weiß ich doch. Darum wird Dir es Dir auch leichtfallen, agile Methoden in Dein Repertoire aufzunehmen.“
Hero: „Also schön, welchen konkreten ersten Schritt würdest Du mir empfehlen?“
Anton: „Design Thinking.“
Hero: „Habe ich schon mal gehört. Was ist das Besondere daran?“
Anton: „Ich weiß es nicht.“
Hero: „Habe ich auch schon mal gehört. Höre ich in letzter Zeit öfter.“
Anton: „Sorry, so meinte ich nicht. Ich meinte „Ich weiß es nicht“ ist das Besondere am Design Thinking. Es bedeutet, dass weder das Management noch der Projektleiter vorgibt zu wissen, wie das Ergebnis aussehen soll - obwohl sie es eigentlich gar nicht wissen können.“
Hero: „Ist mir noch nie passiert“
Anton: „Mir auch nicht“
Beide lachen
Hero: „Also gut. Wie genau geht das?“
Anton: „Als erstes nimmst Du „Ich weiß es nicht“ als Grundhaltung ein. Um ehrlich zu sein, ist das gar nicht so einfach. Denn es ist so ziemlich das Gegenteil von der „Ich muss es wissen“-Haltung, die wir als Führungskräfte und Entscheider üblicherweise so leben.“
Hero: „Und prämieren.“
Anton: „Das ändert sich gerade. Zum Glück. Denn viele Zukunftsfragen brauchen diese neue, offene und angstfreie Attitüde. „Ich weiß es nicht“ ist die Haltung von Designern und Forschenden. Sie bedeutet, keine Bestätigung für eine eigene vorgefasste Meinung zu suchen, sondern Fragen zu stellen, unvoreingenommen zuzuhören, neugierig zu bleiben und nach der bestmöglichen Lösung zu suchen.“
Hero: „Klingt logisch, aber irgendwie immer noch vage.“
Anton: „Es gibt Werkzeuge und Moderationsformate, die Dir helfen, das in die Praxis umzusetzen. In Deinem konkreten Fall würde ich als erstes das Management zu einem Gespräch einladen, um eine Analyse des Projektzwecks durchzuführen. Je unklarer das gewünschte Ergebnis, desto klarer muss der Zweck herausgearbeitet werden. Dabei geht es um Antworten auf Fragen wie: „Warum ist das Projekt wichtig - und für wen?“ oder auch „Inwiefern wird das Projekt die Zukunft verändern – und für wen?“. Sobald das WARUM und das WOFÜR klar sind, erfragst Du das WAS. Dabei ist nicht entscheidend, schon die Technologie festzulegen oder die exakte Ausgestaltung. Vielmehr wird der gewünschte Zielzustand beschrieben. Dies kann anfangs durchaus noch vage sein.
Hero: „Ist das nicht zu wenig, um ein Projekt zu starten?“
Anton: „Im traditionellen Projektmanagement wäre das so.“
Hero: „Und im Agilen?“
Anton: „Im Agilen überlegst Du Dir nun die Ressourcen, die Du benötigst, um den definierten Zielzustand zu erlangen. Ressourcen heißt im Wesentlichen die benötigten Kompetenzen und Menschen.
Hero: „Das Team.“
Anton: „Genau. Im Agilen ist das Team der Star. Nicht umsonst trägt die berühmteste agile Methode „Scrum“ ihren Namen nach der Rugby-Formation, in der alle ihre Köpfe zusammenstecken.“
Hero: „Du hast ja auch schon einmal ein agiles Digitalisierungsprojekt gemacht. Wer war denn in Deinem Team?“
Anton: „Wir hatten die Superkräfte aus den folgenden Bereichen gebündelt: Produktion, Produktmanagement, Entwicklung, Maschinenbau/Ingenieurwesen, Facility Management, klassische IT, Data Science und Digital Intelligence, Finance/Controlling, Datenschutzbeauftragte, Projektcontrolling und noch einige mehr.
Hero: „Wow, das sind viele.“
Anton: „Ja, das war ein regelrechtes „Digitales Labor“, in dem ein interdisziplinäres Team selbstverantwortlich Lösungen entwickeln konnte. Sehr ergebnisorientiert und mit extrem steiler Lernkurve.“
Hero: „Was ist mit der Sicherstellung der Regularien für Compliance und so weiter?
Anton: „Wir hatten von Anfang an eine Expertin aus Qualitätsmanagement und Compliance im Team. Schulter an Schulter mit allen anderen Experten. Das hat super geklappt.“
Hero: „Ist ja auch schon die Idee des Total Quality Managements und des japanischen Kaizen.“
Anton: „Genau. Eigentlich ist agiles Management nur eine Fortführung traditioneller Verbesserungs- und Gruppenarbeitskonzepte. Gepaart mit einer strikten Kundenorientierung bei unscharfer Zielvorgabe.“
Hero: „Ich glaube, letztlich ist jedes neue Projekt eine Reise durch unbekannte Gefilde.“
Anton: „Nur manchmal ist eben nicht nur der Weg, sondern auch der genaue Zielort der Reise unbekannt.“
Hero: „Aber die Richtung muss man schon kennen.“
Anton: „Genau, es braucht eine Vision und eine Richtung ...“
Hero: „... und dann heißt es agil auf Sicht zu navigieren.“
Anton: „Jetzt hast Du’s. Und noch eine gute Nachricht: Bei „Over the Fence“ findest Du kostenlose Tools und nützliche Tipps, die Dir helfen, agile Praktiken zum Fliegen zum bringen ... selbst in Organisationen wie unserer, die noch gar nicht so agil sind.
Wann also benutzt man die klassischen Planungs- und Steuerungsinstrumente des Managements – wann besser die agilen? Die Antwort lautet: Immer wenn sich die Anforderungen – d.h. die Qualitätskriterien (Q) – an das zu erstellende Ergebnis zu Beginn des Vorhabens ermitteln lassen und stabil sind, ist das klassische Vorgehen sehr gut geeignet. In anderen Worten, wenn der Projektkunde von Anbeginn weiß, was er will – und zwar vollständig, präzise und verlässlich – kann man getrost klassisch vorgehen. Bei Unwissenheit oder Unsicherheit hingegen, ist die agile Vorgehensweise überlegen.
Hier kannst Du die Übersichtsgrafik als PDF herunterladen.
Wir bieten Workshops zum Thema
- Services für bessere Projekte (Training & mehr)- Aktuelle offene Events s. Veranstaltungsankündigungen
Quellen- und Rechtehinweis:
- Der Dialogtext wurde erdacht und erstellt von Karen Schmidt und Frank Habermann und unterliegt dem Copyright der Autoren. Vielen Dank an Dr. Karsten Gottke & Regina Fehling für die Inspirationen.- Die Grafiken wurden erstellt von Yorgos Konstantinuo für Over the Fence. Sie können verwendet werden unter Berücksichtigung einer Creative Commons Lizenz (zu zitieren als "CC BY SA 4.0 Over the Fence/Yorgos Konstantinou"). Vielen Dank, Yorgos!