Wie viel Vereinfachung ist erlaubt?
Wann wird aus dem Versuch, eine gute Sache populär zu machen, purer Populismus?
Eine Grundsatzüberlegung am Beispiel der "Stacey-Matrix"
Wir haben ein neues Buch geschrieben. Es heißt „Hey, nicht so schnell!“. Was ein recht flapsiger Titel ist. Besonders wenn man die Schwere des Themas berücksichtigt. Denn es geht um menschliches Denken und das Treffen komplexer organisationaler Entscheidungen. Hunderte Menschen, die schlauer sind als wir, haben auf diesem Gebiet geforscht. Warum also haben wir dieses Buch geschrieben? Weil wir denken, dass wir bei „Over the Fence“ etwas besonders gut können: das einfache Erklären von schwierigen Zusammenhängen.
Dabei stellen wir uns immer die Frage, wie viel Einfachheit ist erlaubt? Wann wird aus Vereinfachung unzulässige Trivialisierung oder gar Verfälschung? Wie viel Weglassen und Uminterpretieren ist möglich? Oder kurz: wann wird aus dem Versuch, eine gute Sache populär zu machen purer Populismus?
Ich habe ein Beispiel, an dem ich das verdeutlichen möchte: Die „Stacey-Matrix“. Sie wird heute als Methode der Komplexitätsbestimmung genutzt. Diese soll dazu dienen, den richtigen (Projekt-)Managementansatz zu ermitteln – also agil oder traditionell. So weit so gut. Ich mag die Abbildung. Ich bin damit einverstanden. Das Problem ist: sie hat gar nichts mit Stacey zu tun. Und sie ist auch ansonsten nicht fundiert.
Ich habe einmal versucht, die Historie der „Stacey-Matrix“ nachzuvollziehen.
1996-2002: Original
Stacey ist ein Wissenschaftler. Seine Werke sind Bleiwüsten; auf 500 Seiten kommen fünf Grafiken. Oder weniger. Die besagte Matrix stammt aus seiner ersten Schaffensperiode (Organisational Complexity ..., 2nd ed. 1996). Dabei versuchte er Organisationen als „komplexe adaptive Systeme“ zu erklären. Im naturwissenschaftlichen Sinn. Das besagte Diagramm erschuf er als Modell situativer Führung. Die Situation hängt ab vom Maß der vorherrschenden Sicherheit (Certainty) und Einigkeit (Agreement). Der Witz dabei: das Diagramm ist gar keine Matrix, war nie so gemeint! Was Stacey indessen beschäftigte war ein Unsicherheits-Paradox: Wenn Manager Pläne erstellen, das Ergebnis aber nachweislich nicht durch diese Pläne erreicht werden kann (weil keine Einigkeit/Sicherheit), was tun Manager dann tatsächlich, um das angestrebte Ergebnis (oder ein ähnliches) herbeizuführen? Wie gesagt, ist nicht so einfach verständlich. Wahrscheinlich deshalb wurde es auch so häufig umgedeutet und auf die einfache Formel reduziert: Komplexität = Unsicherheit X Uneinigkeit (s. die nächste Abb. „Complexity assessment grah“). Das war NICHT was Stacey meinte! Er meinte das Gegenteil: komplexes Handeln als ANTWORT auf Situationen. Seine Originalgraphik führt dazu Beispiele an. Doch das Kind war bereits in den Brunnen gefallen. Dort hat Stacey es dann belassen. In seinen Neuauflagen taucht das Diagramm nicht mehr auf.
Ab 2003: Scrum
„Scrum“ ist ja im Rugby eine Art, das Spiel neu zu beginnen. So verhält es sich auch mit Ken Schwabers berühmten Buch „Agile Project Management With Scrum“. In der mir vorliegenden 2004er Ausgabe behandelt er im ersten Kapitel „The Science of Scrum“. Dabei verwendet Schwaber eine durch Brenda Zimmerman modifizierte Abbildung von Stacey (s. Figure 1-1), um sein Komplexitätsverständnis zu verdeutlichen. Nach Schwaber bedeutet die vertikale Achse „Requirements Complexity“ und die horizontale „Technology Complexity“. Warum? Wird nicht erklärt. Ist auch wenig logisch. Denn wieso sollte sich Unsicherheit nur auf Technologie beziehen (und nicht auch auf die Anforderungen)? Und weshalb sollten sich Menschen nur in Bezug auf Anforderungen uneinig sein können (und nicht auch in Bezug auf die einzusetzende Technologie)? Keine dieser offensichtlichen Fragen wird thematisiert. So ist das, was Schwaber macht nicht – wie er vorgibt – „Science“, sondern das Gegenteil davon. Denn er missbraucht ein anerkanntes wissenschaftliches Modell, um seine eigene Idee populär zu machen. Dabei stellt er Zusammenhänge her, wo keine sind. Nochmal: Schwabers Ideen sind wertvoll. Nur liefert Staceys Forschung dafür nicht die Rechtfertigung. Letztlich diskreditiert sich Schwaber mit diesem Vorgehen selbst. Dazu passt es, dass ganz vorne auf dem Buch „Best Practices“ steht – eine Sache, von der wir wissen, dass sie in komplexen Systemen nicht funktioniert. Aber „Best Practices“ helfen wohl dem Verkauf. Marketing frisst Seele auf.
Ab 2015: VUCA
Spätestens seit Mitte des vergangenen Jahrzehnts besteht eine große „agile Bewegung“ über Scrum und Entwicklungsprozesse hinaus. Für die Verfechter dieser Bewegung ist „agiles Management“ die Antwort auf die Herausforderungen der VUCA-Welt. Dass dies ein großer Markt ist, versteht sich von selbst. Insbesondere für Unternehmensberater. Diese kreieren gerne Grafiken „in Anlehnung an Stacey“. Also eigentlich in Anlehnung an Schwaber. Denn die Darstellungen werden als „Instrumente zur Komplexitätsbestimmung“ propagiert. Natürlich sind das sehr kreative Kreationen. Die krudeste Modifikation besteht in der Hinzufügung des Begriffs der „Klarheit“. So schreibt beispielsweise die Unternehmensberaterin Katja von Bergen „Die Entscheidungsfindung ist abhängig von der Klarheit des anzustrebenden Ziels und des Weges dorthin.“ Für sich genommen ist die Aussage okay. Sie ist aber ganz und gar nicht mehr okay, sobald sie unter einer „Stacey Matrix“ steht. Noch dazu kombiniert mit dem Cynefin-Framework und adaptiert von einem anderen Autoren. Also eine Adaption der Adaption der Adaption der Adaption der Adaption. Keiner dieser Übergänge ist erklärt. Das ist nicht Wissenserschaffung; das ist Wissensvernichtung. Was übrig bleibt ist homöopathisches Wissen – die aktuellen Varianten der „Stacey-Matrix“ sind Globuli: ohne Inhalt, wirken aber trotzdem.
Hier eine kleine, unvollständige Kollage der aktuellen Globuli, mit denen so herumgedoktort wird.
Eine Kollage von Varianten der "Stacey-Matrix"
Die Stacey-Matrix ist ein Instrument des "Storytelling" - und sollte auch so benannt werden!
Fazit:
Die Stacey-Matrix (in den aktuellen Versionen) hat nichts mit Stacey zu tun. Zudem sind die vorgenommenen „Weiterentwicklungen“ willkürlich. Doch das Ganze erscheint irgendwie plausibel. Die Darstellungen eignen sich, um zu erklären, in welchen Situationen „agiles Management“ wichtig wird. Nicht um alles zu erklären und auch nicht alles richtig, aber gut genug, um damit die „gute Sache“ voranzubringen. Ich denke, das ist wertvoll. Es ist nur eben keine gestützte Erkenntnis. Es ist, was es ist: Storytelling! Die „Stacey-Matrix“ ist ein Instrument des Storytelling. Sie eignet sich, die „Agilitätsgeschichte“ zu erzählen. Nicht mehr und nicht weniger. Deshalb sollte sie auch so benannt werden. Tun wird das nicht – geben wir Storytelling als Wissenschaft o.ä. aus – dann begehen wir einen Verrat an der Sache. Denn das ist Populismus. Und Populismus müssten wir auch anderen zugestehen. Anderen, die vielleicht genau das Gegenteil von dem wollen als wir selbst. Und wenn sich dann alle nur noch auf Viertelwahrheiten stützen, ist kein Austausch mehr möglich. Denn dann ist nichts mehr Beleg, und alles ist nur noch Glaube.
Wir bieten Workshops zum Thema
- Services für bessere Projekte (Agilität wirklich verstehen und meistern)- Aktuelle offene Events s. Veranstaltungsankündigungen
Storytelling zum Thema:
- Warum Amy agil ist ... (Storytelling-Blogpost)- Wahre Helden sind agil (Storytelling-Blogpost)
Für alle, die noch mehr wissen wollen:
- Ralph Stacey, Strategic Management and Organisational Dynamics, The Challenge of Complexity to Ways of Thinking about Organisations, 7th ed, Pearson, 2015- Dave Snowden, Separated by a common language? Blogpost, Published: Oct 13, 2019, Online
- Brenda Zimmerman, Embracing Complexity, Connectivity, and Change, Talk/Video, Published: Nov 22, 2013, Online
Internet-Funde "Stacey-Matrix" (nicht vollständig)
https://erfolgreich-projekte-leiten.de/stacey-matrix/https://persoblogger.de/2018/04/30/digitale-transformation-von-hr-kleine-einfuehrung-fuer-personaler-als-lern-bingo/
https://wecreation.de/content/2019/06/27/die-stacey-matrix/
https://www.solvin.com/blogdetails/wie-sie-die-richtige-projektmanagement-methode-fuer-ihr-projekt-finden.html
https://innovationsblog.dzbank.de/2018/08/02/why-agile-was-wir-aus-dem-innovationsmanagement-der-industrie-fuer-den-finanzsektor-lernen-koennen/
https://yanado.com/blog/top-4-project-management-methodologies-and-when-to-use-them/
https://www.slideshare.net/MarcinCzenko/start-small-stay-small-25715659
https://www.agile-minds.com/when-to-use-waterfall-when-agile/
https://giom.blog/2019/04/13/transformation-too-complex-for-big-plan/
https://nextlevelconsulting.com/en_us/our-focus/agile-management/agile-approaches-in-projects/?tx_felogin_pi1%5Bforgot%5D=1
https://smoothapps.com/staging/wp-content/uploads/2014/11/ModifiedStacy.png
https://workasavisual.wordpress.com/2018/12/02/the-agile-stacey-matrix/
https://www.kraus-und-partner.de/media/press/dr.-kraus-und-partner-projekte-managen-in-der-vuca-welt.pdf
https://www.visiontemenos.com/blog/agile-learning-series-scrum
https://www.business2community.com/strategy/the-problem-with-scrum-experts-02222318
https://www.itmagazine.ch/Artikel/art_bildergalerie.cfm?aid=67357&arts_idx=82113&nr=1
https://www.projektmagazin.de/artikel/mit-der-stacey-matrix-zur-richtigen-pm-methode_1128468
https://www.projektmagazin.de/artikel/wie-starte-ich-mit-scrum_1110197
https://www.slideshare.net/VALOZ/8-critical-skills-complexity
https://medium.com/grand-parade/the-cost-of-software-development-and-tips-how-to-reduce-it-60ba44e85948
https://www.kayenta.de/training-seminar/artikel/stacey-matrix-die-richtige-projektmanagement-methode-finden.html