Unnötigen Stress vermeiden
Entscheidungssituationen in Organisationen sind oft zäh und frustrierend. Dabei wären viele Ärgernisse vermeidbar. Sie entspringen nämlich Kommunikationspraktiken und falschen Glaubenssätzen, die sich über die Jahre eingeschlichen haben. In dieser Reihe legen wir prominente Denkfehler offen und geben Anregungen, sich davon zu befreien.
Dies ist Fall #2 aus der Reihe
Befreiende Gedanken für nervige Entscheidungssituationen
Ein realer Fall
Jakob ist erfahrener Projektmanager in einem Konzern. Gerade hat er die Leitung eines „Vorprojekts zur bereichsübergreifenden Digitalisierung“ übernommen. Vor dem Kick-off bereitet er alles professionell vor - wie immer. Zuerst studiert er das „Positionspapier Digitalisierung“, das dem Vorprojekt vorausgeht. Anschließend lädt er alle Stakeholder zum Kick-off-Meeting ein und versendet die Projektunterlagen, auch das besagte Positionspapier. Zur weiteren Vorbereitung erstellt Jakob eine Präsentation, in der er die Eckpunkte des Positionspapiers, sowie Ziele und Scope des Vorprojekts verdeutlicht. Das Kick-off-Meeting läuft dann auch wie am Schnürchen: es gibt kaum Fragen und die Projektziele werden einstimmig beschlossen. Umso mehr ärgert sich Jakob, dass nach wenigen Projektwochen Aussagen wie, „niemals besprochen“, „nicht im Scope“ und „so nicht verabredet“ von den Stakeholdern kommen. Gut, dass Jakob sauber Protokoll geführt hat – da kann ihm keiner was.
Einordnung
Eigentlich hat Jakob alles richtig gemacht. Zumindest, wenn es nach „Managementlehrbuch“ und Projektmanagement (PM)-Zertifizierern, wie IPMA, PMI, PRINCE2, geht. Doch die klassische PM-Schule hat einen blinden Fleck. Es ist derselbe blinde Fleck, dem die gesamte BWL unterliegt. Er heißt „Homo Oeconomicus“: die Modellannahme, dass der Mensch stets rational agiert. Gemeint/gesagt. Gesendet/empfangen. Gelesen/verstanden. Dass echte Menschen nicht so funktionieren, sollte offenkundig sein. Zumindest für alle, die aufgeregte Diskussionen, übellaunige Kollegen und nervige Situationen, wie die von Jakob, jemals live erlebt haben. Denn so etwas dürfte es nach der klassischen Managementlehre gar nicht geben!
Befreiende Gedanken
Jedes Projekt startet mit einem Missverständnis. Dasselbe gilt für jedes Entscheidungsvorhaben. In allen kooperativen Situationen außerhalb der Routine ist das Missverständnis immer schon da. Es ist der natürliche Ausgangszustand jeder Zusammenarbeit! Diese Erkenntnis ist befreiend. Denn hat man sie erlangt, braucht man nicht mehr „aufzupassen, dass kein Missverständnis entsteht“ (das wäre ja aussichtslos). Stattdessen darf man sich auf etwas Aussichtsreicheres konzentrieren, nämlich die „Entwicklung von Verständnis“.
Gemeinsames Verständnis kann entwickelt werden. Damit dies gelingt, muss man sich von etwas Weiterem befreien. Nämlich von der Modellvorstellung des stets bewusst agierenden und rational handelnden Menschen. Diese Annahme ist genauso hinderlich wie weit verbreitet. Hartnäckig ist sie zudem. Schließlich haben die meisten (Projekt)Manager – auch die Autoren dieses Artikels – dieses Managementmodell gelernt und jahrelang geübt, sprich: verinnerlicht. Inklusive damit einhergehender Vorstellungen professioneller Projektkommunikation („Wer schreibt, der bleibt“). Doch widersprüchlichen Annahmen kommt man weder durch Dokumente noch Präsentationen bei. Man kann Projektbeteiligten kein gemeinsames Verständnis „verabreichen“. Selbst falls in Jakobs Fall, alle Stakeholder das Positionspapier gelesen haben, der Präsentation aufmerksam lauschen und das Protokoll mit besten Absichten abzeichnen, besitzen sie doch weiterhin unterschiedliche Vorstellungen vom Zweck und Scope des Projekts. Und das ist ihnen nicht einmal klar. Wie das sein kann? Für die Psychologie ein alter Hut: Menschen lesen mehr in ein Dokument „hinein“ als heraus; sie filtern aus einer Präsentation nur solche Informationen, die ohnehin zu ihrem Vorverständnis passen. Das geschieht völlig unbewusst und ohne dass sie das wollen. Deshalb muss Jakob sich auch nicht über die Stakeholder ärgern; sie sind (höchstwahrscheinlich) keine rational agierenden Saboteure. Sie sind lediglich „reale Menschen“!
Fazit
Zu viel Präsentation, zu wenig Gespräche; zu viel Vordenken, zu wenig Zuhören: Die übliche „professionelle Vorbereitung“ ist zuweilen nicht nur überflüssig, sondern sogar schädlich. In Jakobs Fall kostet sie ihn viel Mühe und führt alle Beteiligten in die selektive Wahrnehmung. Die Missverständnisse, die zu Beginn jedes(!) Projekts bestehen, kommen so nicht ans Tageslicht. Stattdessen wird eine Illusion gemeinsamer Ziele geschaffen; Verabredung besteht nur auf dem Papier. All das fällt Jakob wenig später auf die Füße. Ein Ärgernis, das genau so häufig wie vermeidbar ist.
Methodentipp
Ein Instrument wie der Project Canvas ist eine Einladung zu einem ergebnisoffenen und konstruktiven Gespräch. Er hilft, den Projektbeteiligten, (unbewusste) Zielkonflikte zu entdecken und ein gemeinsames Projektverständnis zu entwickeln.
Weiterlernen und -lesen
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