Unsicherheit, Unbekanntheit, Unklarheit - eigentlich alles dasselbe?
Unsicherheit, Ungewissheit, Unbekanntheit – in alltäglichen Businessgesprächen gehen die Begriffe oft wild durcheinander. Gleiches gilt für die weite Welt des Halbwissens. Und die des Populismus natürlich (siehe „Agiler Populismus ...“). Aber ist das überhaupt schlimm? Hat es negative Auswirkungen auf unsere Entscheidungen, wenn wir die Begriffe mehr oder minder synonym verwenden? „Nein“, sagt der gesunde Menschenverstand, „ist doch alles quasi dasselbe“. „Von wegen“, sagt die betriebswirtschaftliche Entscheidungstheorie und liefert differenzierte mathematische Formeln.
Zu Beginn eines Vorhabens sollte man genauer hinschauen
Wer von beiden hat recht? Beide und keiner! Denn es kommt darauf an, wann wir diese Frage stellen. Stellen wir sie innerhalb der alltäglichen Routine, können wir Fünfe gerade sein lassen. Befinden wir uns jedoch zu Beginn eines neuartigen Vorhabens – etwa bei der Reorganisation des Vertriebs oder der Einführung innovativer Technologien – sollten wir genauer hinschauen. Genauer heißt: präzise genug, um den „gesunden Menschenverstand“ nicht „gemein“ werden zu lassen. Und pragmatisch genug, dass die vermeintliche Wortklauberei auch im Angesicht ungeduldiger Führungskräfte und notwendiger Effizienzen funktioniert.
"Uncertainty Mapping" ist eine Methode zur Erlangung von Klarheit über Unsicherheiten
In den vergangenen Jahren haben wir hierzu einiges ausprobiert. Für Projekte, Kampagnen und andere Change-Initiativen haben wir versucht, die „Unsicherheit“ zu vermessen. Einiges davon hat gut geklappt, anderes eher so lala. Herauskristallisiert hat sich ein gutes Verfahren, das wir hier vorstellen. Es heißt „Uncertainty Mapping“.
„Uncertainty Mapping“ ist ein visuelles Denkwerkzeug. Es kombiniert traditionelle Instrumente des Projektmanagements (s. Pearson/Brockhoff 1994) mit agilen Praktiken und Designdenken (s. Habermann/Schmidt 2017). Beim „Uncertainty Mapping“ gewinnen die für ein Vorhaben maßgeblichen Akteure Klarheit über dessen Unsicherheiten. Der Witz dabei: Die Methode schafft durch entspannten Dialog und sachorientierte Informationsanalyse die Basis für ein gemeinsames Verständnis der Teilnehmenden. Die beteiligten Personen können „blinde Flecken“ in ihrem Verständnis des Vorhabens (und der Unsicherheiten) erkennen und lernen einander besser zu verstehen und die professionellen Perspektiven der anderen wertzuschätzen. Grundlage hierfür ist eine Vorgehensweise nach der „Methodik des langsamen Denkens“.
Vorgehensweise:
1) Identifiziere die maßgeblichen Akteure für das Vorhaben (z.B. Führungskräfte, Team, Kunden, andere Stakeholder). Bringe diese Schlüsselpersonen in einem Raum zusammen. Statte jede Person mit Stift und Haftzetteln aus.
2) Erkläre den Anwesenden den Hauptzweck des Workshops: „Wir wollen ein gemeinsames Verständnis der Unsicherheiten des Vorhabens gewinnen.“
3) Schreibe auf ein Whiteboard (alternativ: Pinnwand) die Frage „Mit welchen Unsicherheiten ist unser Vorhaben konfrontiert?“
4) Lade die Teilnehmenden zu einem „ Silent Brainstorming“ zu dieser Frage ein. Jeder soll schweigend und für sich alleine sein Verständnis der Unsicherheiten aufschreiben. Pro Haftzettel nicht mehr als eine Unsicherheit. Die Anzahl der Haftzettel ist nicht limitiert. Gib 5 Minuten Zeit.
5) Lade einen ersten Akteur ein, Haftzettel für Haftzettel am Whiteboard anzubringen. Dabei soll die Person pro Haftzettel „in einem Atemzug“ kurz erklären, warum der angebrachte Aspekt aus ihrer Sicht eine „Unsicherheit“ darstellt. Die anderen hören schweigend zu. Falls sie hierzu Fragen oder Anmerkungen haben, machen sie sich Notizen. Hinweis: Für den Ablauf ist es sehr hilfreich, wenn an dieser Stelle keine Rückfragen zugelassen werden und keine Diskussion aufkommt.
6) Ist die erste Person mit ihren Haftzetteln durch, folgt die nächste Person und geht genauso vor: Haftzettel für Haftzettel mit kurzer Erklärung. Auch weiterhin gilt: keine Rückfragen und keine Diskussion. Zudem sollen die Haftzettel nicht sortiert werden. Die Teilnehmenden sollen sich an dieser Stelle schlicht darauf konzentrieren, die Argumente der anderen zu verstehen.
7) Sind alle Personen fertig, ist ein Bild mit ganz vielen Haftzetteln entstanden. Das darf bestaunt werden! Im Anschluss werden die aufgeschriebenen Verständnisfragen geklärt. Die Runde ist beendet, wenn jeder Akteur die Argumente aller anderen Akteure verstanden hat. Hinweis: Verstanden haben, heißt nicht zwingend auch einverstanden sein. Einverständnis werden wir im weiteren Verlauf erzeugen.
8) Teile das Whiteboard gedanklich in eine rechte und eine linke Hälfte. Schreibe über die linke Seite „Wir können aktiv werden!“ Falls Du gern zeichnest, kannst Du das illustrieren, z.B. mit einer Hand.
9) Nimm‘ einen beliebigen Haftzettel und frage in die Runde: „Können wir in diesem Punkt irgendwie aktiv werden, um die Unsicherheit zu beseitigen.“ Ist dies einvernehmlich der Fall, hänge den Haftzettel nach links (unter die „Hand“). Ist es einvernehmlich nicht der Fall, hänge den Haftzettel nach rechts. Falls die Gruppe kein rasches Einvernehmen erzielt, positioniere den Haftzettel in der Mitte.
10) Sortiere so in rascher Folge alle Haftzettel. Vermutlich wirst Du das gleiche erleben, wie wir bei den meisten unserer Workshops: ganz viele Haftzettel landen auf der linken Seite, eher wenige rechts und in der MItte.
Was bedeutet das und wie kannst Du damit weiter vorgehen?
- Die Haftzettel links sind keine „Unsicherheiten“. Es sind vielmehr gegebene Situationen oder Zustände. Wir bewerten jedoch solche Dinge oft als unsicher, weil sie uns „unsicher machen“. So mögen wir uns vielleicht „nicht sicher sein“, wie ein bestimmter Stakeholder (der beim Workshop nicht teilgenommen hat) über unser Vorhaben denkt – ob er dem Vorhaben wohlgesonnen ist oder nicht. Die Haltung dieser Person ist aber existent; es gibt diese Haltung, ganz sicher. Sie ist uns nur nicht bekannt. Wir sind uns im Unklaren darüber, was die Person denkt. Nicht die Haltung dieser Person ist „unsicher“, sondern wir sind es, weil es uns schlicht an der nötigen Information fehlt. Was also tun? Mit dem Stakeholder sprechen wäre eine Idee. Oder anderswie aktiv werden, um das Nötige heraus zu bekommen. Ein anderes Beispiel: „Das Team ist noch nicht vollständig“. Ein Fakt. Eine gegebene Situation. Keine schöne, zugegeben. Aber keine Unsicherheit. Es kann und sollte entschieden werden, ob man auf die Vollständigkeit des Teams hinarbeitet, bevor man das Vorhaben startet oder nicht. Ein letztes Beispiel: „Budget ist vermutlich nicht ausreichend“. Das Budget ist festgelegt. Fix, approved, gegeben! Was also steckt hinter der Aussage, dass das Budget „vermutlich“ nicht ausreicht? Basiert die Vermutung auf einem Mangel an Information (s.o. Stakeholder) oder auf einer tatsächlichen Unsicherheit? Hier lohnt es sich, weiter nachzudenken.
- Die Zettel rechts sind tatsächliche „Unsicherheiten“. Eine Unsicherheit ist in der Betriebswirtschaft definiert, als „ein zukünftiges Ereignis, dessen Eintreten wir nicht beeinflussen können.“ Könnten wir es beeinflussen, hinge es links (unter der Hand). Da wir es aber nicht beeinflussen können und es auch noch nicht existiert, ist es eine echte Unsicherheit. Falls das zukünftige Ereignis eine negative Wirkung hat, ist es ein Risiko, falls die Wirkung positiv ist, haben wir eine Chance. Hinweis: Tatsächlich gibt es auch ambivalente Ereignisse, die beide Wirkungen entfalten können – aber die sind noch seltener und Gegenstand philosophischer Abendgespräche, die wir gern bei einem Getränk führen.
- Zu guter Letzt zur Mitte. Wendest Du die beschriebene Logik an, müssten die meisten Haftzettel nach rechts oder links abwandern. Doch es gibt – ganz wenige – sehr hartnäckige Fälle. Ein Beispiel: „Entscheidung des CEO“. Wir können hier vielleicht aktiv werden und versuchen, auf eine rasche Entscheidungsfindung hinzuwirken, aber ob’s etwas bringt? Manche Dinge sind (in manchen Organisationen) tatsächlich nicht zu beantworten.
Zweck der Methode: Erkennen blinder Flecken und Erlangen eines gemeinsamen Verständnisses
-> Alle außer Physikern dürfen nachschauen.
Die Methode kann direkt angewendet werden (benötigt kaum Vorbereitung). Ein Workshop dauert nicht länger als 120 Minuten.
Fazit:
„Uncertainty Mapping“ ist ein moderierter Dialog. Durch gezielt eingesetzte Musterbrecher entsteht eine unaufgeregte Atmosphäre mit hoher Sachorientierung. Der formalisierte Gesprächsablauf gewährleistet zudem, dass jeder Teilnehmende gleichermaßen Raum bekommt, um seine Gedanken zu äußern. Dabei verstehen in einem ersten Schritt alle Beteiligten, wie die anderen Personen „ticken“ und welche Vorverständnisse sie bezüglich der Unsicherheiten eines geplanten Vorhabens aufweisen. In einem zweiten Schritt werden „echte“ Unsicherheiten von bloßen Unklarheiten („Ob Stakeholder XY das Projekt unterstützt“) und schwierigen Situationen („Team nicht vollständig“) getrennt. Die so gewonnene Klarheit ist Ausgangspunkt für das abschließenden Resüme des „Uncertainty Mapping“-Workshops. So kann z.B. hinsichtlich der „linken“ Haftzettel entschieden werden, ob weitere Aktionen notwendig sind, bevor das Vorhaben startet. Bezüglich der Haftzettel rechts sind Maßnahmen zur Handhabung von Risiken zu bedenken.
Wir bieten Workshops zum Thema
- Unsicherheit erfolgreich managen (Methodentraining & mehr)- Aktuelle offene Events s. Veranstaltungsankündigungen
Literaturhinweis:
- Pearson, A.; Brockhoff, K.: The uncertainty map and project management, Project Appraisal, 9(1994)3, S. 211-215, online- Habermann, F.; Schmidt, K.: Project Design. Thinking Tools for Visually Shaping New Ventures, Berlin 2017, Lesson 17, S. 143-145, zum Buch