Wir – Karen Schmidt und Frank Habermann von „Over the Fence“ – gehen guten Entscheidungen auf den Grund. Wir wollen wissen, was gute Entscheidungen ausmacht und wie man sie herbeiführt. Zu diesem Zweck sprechen wir mit Top-Entscheidern über ihre Erfahrungen mit guten (und schlechten) Entscheidungen. Unsere Erkenntnisse haben wir in unserem neuen Buch „Hey, nicht so schnell!“ zusammengefasst (GABAL-Verlag, 2021).
Kai Nowosel über "Besserwisser"
Viele mögen keine Besserwisser. Doch wir sollten dieses Vorurteil überdenken. Besserwisser können uns zu besseren Entscheidungen bringen, sagt Kai Nowosel, Chief Procurement Officer bei der Unternehmensberatung Accenture. Kai Nowosel trifft täglich Entscheidungen, die in den Arbeitsalltag vieler Menschen eingreifen. Und er hört auf Besserwisser. Weshalb, dies erklärt er uns im Gespräch.
Kai, Du sagst, Du hast ein Faible für Besserwisser…
(lacht) Auf eine bestimmte Weise, ja. Ich glaube, dass Besserwisser für gute Entscheidungen unverzichtbar sind. Erfahrungswerte von anderen sind extrem wichtig, um gute Entscheidungen zu treffen.
Angenommen, Du könntest für bessere Entscheidungen nur eine einzige Sache berücksichtigen - wären dies die Erfahrungswerte von anderen Menschen, die es besser wissen als Du?
Ganz bestimmt! Häufig stellen wir bei Entscheidungen unbewusst die eigenen Erfahrungswerte über die Erfahrungswerte von anderen. Oder wir sind gar nicht an Erfahrungswerten von anderen interessiert. Wir haben ja schon eine Meinung...
... die uns andere bestätigen sollen.
Richtig! Ich aber sehe dies völlig anders. Ich kann mir Teams sparen, in denen alle die gleichen Erfahrungswerte haben. Die kommen immer zu den gleichen Ergebnissen! Ich bin sicher, dass wir unsere Entscheidungen verbessern würden, wenn wir die Erfahrungswerte anderer akzeptieren würden.
Kai Nowosel ist seit 2017 der Chief Procurement Officer von Accenture. Zuvor leitete er das „Sourcing & Procurement“ Beratungsgeschäft von Accenture weltweit.
Bevor er 2005 zu Accenture kam, war Kai Nowosel bereits 12 Jahre in der Beschaffungsbranche tätig. Er leitete 5 Jahre den Beschaffungsbereich für „Commercial Operations“ bei Sanofi Aventis sowie 7 Jahre die operative Beschaffung bei der Deutschen Bank.
Kai Nowosel ist spezialisiert auf die Beratung von Einkaufsleitern und Bereichsleitern mit Beschaffungsverantwortung. Sein besonderes Interesse gilt Fragen der Digitalisierung sowie der Gestaltung eines erweiterten Wertbeitrags des Beschaffungswesens.
Kai Nowosel ist Autor der Accenture-Studie "Future of Procurement“. Er hat seinen Sitz in Frankfurt.
"Ich glaube, dass Besserwisser für gute Entscheidungen unverzichtbar sind."
Bei jemandem, den ich Besserwisser nenne, kann ich mich auf drei Dinge verlassen. Er hat eine andere Meinung als ich. Seine Meinung ist reflektiert - und er steht zu seiner Meinung. Er bestärkt mich nicht in meiner eigenen Meinung. Er lässt mich lernen. Und ich brauche Menschen, die trotz ihrer eigenen, starken Meinung offen sind.
So etwas steht unserem landläufigen Hierarchiedenken entgegen …
Kollaborative Entscheidungsprozesse haben nichts mit Hierarchien zu tun – oder damit, dass nach einer Diskussion eine Person mit Seniorität die Entscheidung fällt. Ich halte wenig von dieser Seniorität. Ganz im Gegenteil, ich bin ein Freund von Reverse Mentoring – eben vor dem Hintergrund der Generationenvielfalt.
Wo findest Du diese Besserwisser, die Du suchst?
Die Besserwisser kommen von außerhalb, und sie wechseln laufend. Häufig kenne ich sie nicht einmal. Um sie zu finden, nutze ich mein Netzwerk; ich verstehe mich ja als Network Player. Ich spreche also Menschen aus meinem Netzwerk an, denen ich vertraue. Ich beschreibe ihnen die Situation, vor der ich stehe. Dann frage ich sie: Wen würden sie als Inputgeber für den Entscheidungsprozess empfehlen? Ich gehe also davon aus, dass die Leute in meinem Netzwerk wiederum Leute kennen, die mir zu meinen Fragen Perspektiven geben können und am Entscheidungsprozess teilhaben. Die Besserwisser wechseln also. Doch die Menschen, die ich nach Kontakten frage, bleiben gleich.
Hast Du das Gefühl, dass jeder, den Du in den Prozess hinein holst, auch relevant ist für die Entscheidungsfindung?
Absolut jeder! Manchmal hört jemand nur zu und sagt am Ende: Ich verstehe das alles nicht.
Er hat also nichts direkt beigetragen.
Doch, das hat er. Sein Impuls ist hilfreich. Er zeigt, dass man sich bei der Diskussion vielleicht in einer ”Denk-Rille” verfangen hat und vielleicht etwas Wichtiges außer Acht lässt.
"Erfahrungswerte heißt ja nichts anderes als: Jemand weiß etwas besser!"
Wie sieht für Dich ein guter kollaborativer Entscheidungsprozess aus?
Einige Merkmale haben wir eben schon genannt: Die Erfahrungswerte anderer einbeziehen, ein tiefes Verständnis für diese Erfahrungswerte sowie Offenheit ermöglichen. Bei kollaborativen Entscheidungsprozessen brauchen wir eine völlige Freiheit des Denkens – und eine Wertschätzung dieser Diversität des Denkens. Der Prozess ist wirklich ergebnisoffen, und die Antwort ist nicht von Anfang an klar. Ich möchte ja nicht meine eigenen Anschauungen bestärkt sehen.
Das heißt, dieser kollaborative Entscheidungsprozess hat eine eigene DNA?
Ja, das hat er, eine Vertrauens-DNA. Entscheidungen zu treffen ohne gegenseitiges Vertrauen – das finde ich extrem schwierig. Der Prozess muss frei sein von Dynamiken in der Gruppe, die Vertrauen verhindern oder beschränken. Die vielleicht dazu führen, dass jemand weniger wertgeschätzt wird als andere. Solche Dynamiken werden übrigens nicht nur durch Hierarchien ausgelöst, sondern auch durch die Herkunft der Beteiligten, Geschlecht oder Alter. Solche Prozesse brauchen sorgfältige Führung sowie eine Struktur und ein Framework mit einer Toolbox, die diese Freiheit des Denkens sicherstellt.
Wie gehst Du bei diesem Entscheidungsprozess vor? Was sind die Schritte?
Ich habe dazu drei Begriffe im Kopf. Der erste ist die Entscheidungsvorbereitung. Ich habe bislang kaum zu einem Meeting eingeladen, ohne vorher mit dem einen oder anderen Teilnehmer gesprochen zu haben über das, was wir entscheiden wollen. Vorbereitung heißt für mich auch: Ich gebe anderen die Chance, sich vorher mit dem Thema gedanklich auseinanderzusetzen. Der zweite Begriff ist das Entscheidungsmeeting, bei dem bei aller Freiheit alles auf den Tisch kommt. Und der dritte Begriff heißt “Entscheidung sozialisieren”.
Entscheidung sozialisieren? Was ist damit gemeint?
Möglicherweise bereiten wir in dem Meeting eine Entscheidung vor, die ich noch mit Dritten abzustimmen habe. Ich brauche diese Abstimmung, damit andere hinter dieser Entscheidung stehen oder wir festlegen, wie die Entscheidung zu kommunizieren ist. Diese Abstimmung – also die Sozialisierung der Entscheidung – muss nicht in jedem Fall stattfinden. Manchmal liegt die Hoheit für die Entscheidung allein in meiner Hand. Dann endet der Prozess nach dem Entscheidungsmeeting.
Also höchstens drei Schritte?
Es kommt noch ein vierter Schritt dazu. In der Zeit der Agilität stellen wir die Entscheidung regelmäßig auf den Prüfungstand. Wir analysieren, ob sie richtig war oder ob ich sie adaptieren muss. Wie sieht es nach einer Woche aus? Würden wir diese Entscheidung heute immer noch genau so treffen?
Entscheidungen sind nicht in Stein gemeißelt. Man kann sie revidieren.
Eben! Triff Entscheidungen, kommuniziere sie klar. Stelle sie aber in Frage. Halte nicht zu lange an Deiner Entscheidung fest, in der Hoffnung, dass sie sich doch noch als richtig erweisen kann.
"Um geeignete Besserwisser zu finden, nutze ich die Menschen meines Netzwerks, denen ich vertraue."
"Kollaborative Entscheidungen benötigen eine besondere DNA - eine Vertrauens-DNA!"
Also ein Tanz zwischen Verbindlichkeit, Commitment und Freiheit.
Dies hängt eng mit Führung zusammen. Ich bin als Führungskraft bekannt dafür, Entscheidungen zu treffen – aber sie bewusst zu hinterfragen. Damit vergibt man sich nichts. Ich nehme mir das Recht, auf Basis von neuen, erweiterten Informationen die Entscheidungen zu adaptieren, ohne dabei ein Fähnchen im Wind zu sein. Jeder weiß, dass meine Entscheidung verbindlich ist in dem Moment, wenn ich sie kommuniziere.
Eine letzte Frage. Welche Rolle spielen Intuition und Bauchgefühl bei Entscheidungen? Sind sie hilfreich oder nicht?
Für mich ist mein Bauchgefühl eine Art inneres "Sounding-Board". Kann ich mit einer getroffenen Entscheidung leben? Kann ich sie vertreten? Mein Bauchgefühl ist quasi die letzte Hürde für die Entscheidung. Wache ich morgen schweißgebadet auf – dann hinterfrage ich die Entscheidung besser noch einmal. Dieses Hören auf das innere Sounding-Board lasse ich zu – aber es muss am Ende des Prozesses stehen.
Am Ende des Prozesses?
Ja. Nicht am Anfang des Prozesses - im Sinne von “Ich weiß schon die Antwort”. Dann höre ich nämlich nicht mehr auf die Besserwisser.
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"Führung bedeutet auch, auf Basis von neuen, erweiterten Informationen bereits getroffene Entscheidungen zu adaptieren."
"Intuition muss bei Entscheidungen am Ende des Prozesses stehen - nicht am Anfang!"
Entwurf der Schriftfassung und Redaktion: Oliver Steeger
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