Wir – Karen Schmidt und Frank Habermann von „Over the Fence“ – gehen guten Entscheidungen auf den Grund. Wir wollen wissen, was gute Entscheidungen ausmacht und wie man sie herbeiführt. Zu diesem Zweck sprechen wir mit Top-Entscheidern über ihre Erfahrungen mit guten (und schlechten) Entscheidungen. Unsere Erkenntnisse haben wir in unserem neuen Buch „Hey, nicht so schnell!“ zusammengefasst (GABAL-Verlag, 2021).
Mirko Caspar über "Blind Spots"
Entscheidungen sind mit Unsicherheiten verbunden. „Unsicherheiten nerven!“, findet Mirko Caspar. Geschäftsführer von Mister Spex. Er hat daher Praktiken entwickelt, wie man ihnen zu Leibe rücken kann. Das Aufteilen von großen Entscheidungen gehört dazu. Und das äußerst intensive Arbeiten an den eigenen Blind Spots. Wie diese schwierigen Übungen gelingen können, erklärt er uns im Gespräch.
Mirko, Du hast einmal gesagt, dass Du Entscheidungen “zerhackst“. Du machst große Entscheidungen klein. Kleinmachen, zerhacken – was meinst Du damit genau?
Ein Beispiel dazu: Wir waren ursprünglich ein reines Online-Unternehmen. Doch wir wollten strategisch auch offline präsent sein, also mit stationären Ladengeschäften in den Städten. Das ist ja für ein Online-Business, wie wir es führen, keine kleine Sache. Wir sprechen hier über große Investitionen. Wir konnten uns damals, als wir uns diese Frage gestellt haben, nicht den Aufbau von zehn oder mehr stationären Geschäften leisten. Also haben wir die Entscheidung klein gemacht.
Was hat dies für die Entscheidung bedeutet?
Statt eigene Läden aufzubauen, haben wir uns Kooperationspartner mit bestehenden Geschäften gesucht. Die Entscheidung für Kooperationen war für uns wesentlich überschaubarer als die über Investitionen in eigene Geschäfte. Wir sind zu dieser Zeit mit einer Handvoll stationärer Augenoptiker als Partner gestartet. Dann haben wir sowohl die Partner als auch unsere Kunden befragt, wie ihnen dieses Modell gefällt. Danach haben wir relativ schnell auf 300 Partner erweitert und sind inzwischen bei mehr als 500.
”Kleinhacken” ist also eine Strategie für Dich, wenn Du Entscheidungen fällst.
Ja. Große Entscheidungen werden einfacher und besser, wenn man sie so kleiner macht. Mache ich bei kleinen Entscheidungen Fehler, ist dies nicht so schlimm. Sie reduzieren das Risiko.
Dr. Mirko Caspar ist Geschäftsführer bei Mister Spex und verantwortet die Bereiche Marketing & PR, Category Management, Retail-Stores und Produktmanagement sowie die Steuerung der internationalen Märkte. Er studierte BWL an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, wo er anschließend promovierte. Er war unter anderem Unternehmensberater mit Schwerpunkt Marketing und Strategie bei McKinsey, Senior Director Business Development beim Entertainmentkonzern Universal Music sowie Geschäftsführer von dessen Mailorder-Töchtern.
"Große Entscheidungen kann man durch "Zerhacken" einfacher und besser machen."
Aber man kann nicht jede Entscheidung so „kleinhacken“, dass keine Unsicherheiten mehr bleiben…
Wer entscheidet, muss viele Einflussfaktoren betrachten. Da läuft man Gefahr, dass man nicht alle berücksichtigt hat. Das verstehe ich unter Unsicherheit. Diese Art von Unsicherheit nervt mich enorm, und sie treibt mich an. Ich frage mich: Habe ich bei einer Entscheidung alles im Blick und den Sachverhalt komplett verstanden? Oder habe ich noch Blind Spots – und wo sind sie? Das ist wie beim Sudoku-Spiel. Habe ich noch irgendwelche Felder offen?
Unsicherheit bedeutet also für Dich…
… dass ich die Sache, über die ich entscheide, noch nicht ganz verstanden habe. Dann gehe ich “on a mission” und versuche Schritt für Schritt, Blind Spots zu finden und die Lücken zu füllen. Ich versuche so viel wie möglich in Erfahrung zu bringen. Beispielsweise versuche ich, viel über Kundenverhalten herauszufinden. Ich schaue auf die Zahlen und will wissen, wie das Geschäft gerade läuft. Wie verhält sich der Kunde? Wie tickt er? Früher war ich in dieser Beziehung nur an Zahlen interessiert, also quantitativ geprägt. Ich war nur datengetrieben...
Weshalb datengetrieben?
Durch reinen Zufall, denke ich. Ich habe zu diesem Thema promoviert. Heute arbeite ich auch mit qualitativen Nutzertests; da gibt es wirklich viele Tools und Methoden, wie etwa Tiefeninterviews. Zudem suche ich die Meinungen anderer; ich brauche ständiges Feedback und Kontextinformationen. Dann startet man kleine Tests, um herauszufinden, ob man etwas vergessen hat. Und dabei stößt man noch auf den einen oder anderen Blind Spot. Besser jetzt bei den Tests als später!
"... Unsicherheit, die mich nervt und antreibt!"
Und dann?
Irgendwann ergibt sich für mich ein befriedigendes Gesamtbild. Aus diesem Bild heraus kann ich mir die Dinge hinreichend erklären. Und in diesem Moment fühle ich mich mental entlastet. Dann fällt mir die Entscheidung leichter – auch wenn man objektiv die Unsicherheiten nie ganz auflösen kann.
Etwas wirklich ganz zu verstehen ist für Dich also eine Vorbedingung für eine gute Entscheidung.
Was heißt schon „wirklich ganz“? Aber grundsätzlich ist das richtig. Bei einem Kunden will ich entweder seine tiefe Motivation oder seine Grundhaltung begreifen. Ich will wissen, wie diese Motivationen oder Haltungen bei unseren Kunden verteilt sind. Dazu gehören, wie gesagt, sowohl Zahlen und Statistiken als auch der menschliche Deep Dive, das Tiefeninterview. Manchmal, wenn wir etwa einen neuen Kommunikationsansatz probieren, lasse ich vorher ein paar unterschiedliche Leute auf die Idee schauen. Dadurch kann man schon eine große Zahl der Blind Spots entdecken.
Du sagst, dass Du unterschiedliche Leute fragst. Wie suchst Du Dir diese Leute aus?
Ich suche smarte Leute, die von der Sache etwas verstehen. Außerdem brauche ich eine diverse Gruppe, um auch wirklich unterschiedliche Sichtweisen einzuholen. Da muss man gut aufpassen. Bereits die Auswahl der Leute führt zu Filtern – und schafft möglicherweise neue Blind Spots. Man sollte sich ohnehin vor Augen führen, dass man kaum alle Blind Spots füllen kann. Das wäre illusorisch.
"Zum Verstehen gehören Zahlen und Statistiken ebenso wie das Tiefeninterview mit Menschen."
"Gute Entscheidungen benötigen smarte Leute und eine diverse Gruppe."
Woher weiß Du, wie viele Blind Spots eine gute Entscheidung verträgt?
Schwierige Frage. Dies fällt wohl in die Kategorie von Urteilskraft, also von gutem Judgement. Hilfreich ist eine Kombination aus gutem, fundamentalem Basiswissen und einer gewissen Erfahrung. Daran kann man abschätzen, ob wirklich alle für die Entscheidungen relevanten Informationen da sind.
Gutes Judgement ist vielleicht für Experten nicht schwierig. Was aber tun, wenn man als Laie für eine Entscheidung verantwortlich ist – ohne Erfahrung oder Basiswissen?
In solchen Fällen mache ich gewissermaßen meine Fenster weit auf: Ich höre anderen zu. Ich frage sie nach Informationen und ihren Meinungen. Außerdem: Ich habe den Willen, mich tief in die Materie reinzuarbeiten und selbst die Sache gut zu verstehen. Nicht nur irgendwie verstehen, sondern wirklich gut. Nur so kann ich selbstbewusst die Entscheidung fällen und dafür Verantwortung übernehmen.
Du hast anfangs das „Kleinmachen“ von Entscheidungen erklärt. Meine Frage: Gibt es da überhaupt noch große Entscheidungen?
Natürlich gibt es Entscheidungen mit Tragweite und langfristigen Auswirkungen, beispielsweise technische IT-Entscheidungen. Infrastrukturentscheidungen. Da muss man wissen, wo man in fünf Jahren stehen will.
"Ich habe den Willen, mich in Dinge hineinzuarbeiten und gut zu verstehen – wirklich gut, nicht nur irgendwie."
Aber?
Ich halte wenig von der klassischen Strategie, die durchgeplant wird. Wir wissen eben nicht, vor welcher Situation wir in zehn Monaten stehen werden. Deshalb stelle ich zwei Arten von Überlegungen an. Am Anfang frage ich mich, erstens wohin ich schlussendlich gehen will und zweitens was der erste gute Schritt ist. Mehr nicht. Ich verschwende keine Zeit dafür, den genauen Weg für die nächsten zehn Monate festzulegen. Welchen Weg ich genau gehe, dies entscheide ich, wenn es soweit ist, das ergibt sich dann.
Klingt kompliziert...
Nein, das ist es nicht. Angenommen, du willst einen Berg zum ersten Mal besteigen. Du wählst sorgfältig den geeigneten Gipfel aus. Du überlegst, wo du deine Basislager aufschlagen kannst, welche Leute du für den Aufstieg in deinem Team brauchst und welche Ausrüstung sinnvoll ist. Aber – du legst die genaue Route noch nicht fest. Dann startest du. Du siehst, wo Eis auf deinem Weg liegt und du deine Spikes brauchst. Oder wo eine Klippe umgangen werden muss. Bei jeder dieser Entscheidung unterwegs hast du natürlich im Blick, wie du am besten zum Gipfel kommst.
"Ich halte wenig von der klassischen Strategie, die durchgeplant wird."
"Plane, was du erreichen willst und den ersten wichtigen Schritt dafür – mehr nicht!"
Du hast eben von den Leuten im Team gesprochen. Vorhin fiel der Begriff divers. Was meinst Du damit genau?
Wenn du sieben oder acht Menschen mit unterschiedlichem Charakter befragst, kommst du zu einem zutreffenden Meinungsbild und Stimmungsbild. Wichtig ist, dass diese Leute die Zusammenhänge verstehen und auch mit Komplexität umgehen können.
Viele Entscheider nehmen sich nicht die Zeit, anderen zuzuhören?
Das kann ich nicht beurteilen. Aber ich halte nichts von hektisch getroffenen Entscheidungen. Viele entscheiden zu schnell, weil sie Dinge schnell umsetzen wollen. Ich sehe dies anders. Nur weil du schnell umsetzen willst, musst du nicht schnell entscheiden.
Also bloß nicht zu schnell entscheiden…
… und dabei nicht faul sein. Eine gute Entscheidung zu fällen ist harte Arbeit. Die Offenheit und das Befragen anderer kostet Kraft. Aber dies muss sein! Alle Informationen müssen auf den Tisch. Doch manchmal sind die Menschen zu faul, gierig oder gelangweilt. Oder sie wollen anderen nicht mit ihren Fragen auf die Füße treten, oder sie sagen, andere sollen ihnen in ihre Entscheidung nicht hereinreden.
"Nur weil du schnell umsetzen willst, musst du nicht schnell entscheiden."
"Eine gute Entscheidung zu fällen ist harte Arbeit. Die Offenheit und das Befragen anderer kostet Kraft."
Hast Du dabei selbst einmal Fehler gemacht?
Klar. Wahrscheinlich war ich früher zu datengetrieben. Heute beschäftige ich mich auch damit, bei Entscheidungen Emotionen zu berücksichtigen. Sie liefern wichtige Hinweise für die Entscheidung.
Emotionen?
Alle Informationen müssen auf den Tisch – und dazu gehören auch Emotionen. Ich hatte lange Zeit Hemmungen, über ein ungutes Gefühl zu sprechen, wenn ich es nicht logisch erfassen und begründen konnte. Manche Emotionen kann man mit Analytik nicht erklären. Heute kann ich sagen: Sorry, ich habe ein blödes Gefühl bei dieser Entscheidung. Ich kann noch nicht genau sagen, weshalb – aber ich habe dieses Gefühl. Deshalb möchte ich jetzt nicht entscheiden; wir müssen noch weiterdenken, noch andere Informationen analysieren.
Da wir von Emotionen sprechen – eine letzte Frage. Welche Rolle spielt für Dich die Intuition bei schwierigen Entscheidungen? Ist sie hilfreich?
Intuition ist sehr hilfreich. Sie muss aber auf Erfahrung und tiefem Wissen beruhen. Diese reife, ja gereifte, extrem hart erarbeitete Intuition bringt einen dann wirklich weiter. In einem hochkomplexem Umfeld sind Entscheidungen ja kaum noch rational komplett nachzuverfolgen.
"Heute beschäftige ich mich damit, bei Entscheidungen auch Emotionen zu berücksichtigen."
Wie gehst Du mit Deiner Intuition konkret um?
Ich mag den Ansatz, Alternativen zu generieren. Die erste intuitive Idee ist oft nicht die beste. Man muss also sich und seine Mitarbeiter quasi dazu zwingen, von der ersten Idee nicht sofort zur Bewertung zu springen – sondern stattdessen erst einmal sechs oder acht Alternativen zu generieren. Die eine Hälfte der Alternativen entsteht dann vielleicht intuitiv. Die andere erarbeitet man sich hart. Danach kann man alles noch einmal bewerten und die Alternativen auf den Prüfstand stellen.
Intuition hat also wenig mit der Leichtigkeit zu tun, die ihr mitunter nachgesagt wird?
Das wäre womöglich die faule Intuition. Die faule Intuition hilft bei Entscheidungen wenig weiter. Ich habe dagegen die hart erarbeitete Intuition im Blick, die eine gewisse Betriebstemperatur im Gehirn braucht. Das Gehirn setzt sich intensiv mit einer Sache auseinander. Es sucht Blind Spots, füllt diese, holt Informationen ein, lernt, wägt Informationen gegeneinander ab – und dann, wenn es vielleicht schon erschöpft ist, springt es zu einer intuitiven Arbeitsweise. Das meine ich mit „hart erarbeiten“. Mit dieser Art von Intuition kann man vorankommen.
"Intuition ist sehr hilfreich. Sie muss aber auf Erfahrung und tiefem Wissen beruhen. Sonst ist es die faule Intuition."
Entwurf der Schriftfassung und Redaktion: Oliver Steeger
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