Wir – Karen Schmidt und Frank Habermann von „Over the Fence“ – gehen guten Entscheidungen auf den Grund. Wir wollen wissen, was gute Entscheidungen ausmacht und wie man sie herbeiführt. Zu diesem Zweck sprechen wir mit Top-Entscheidern über ihre Erfahrungen mit guten (und schlechten) Entscheidungen. Unsere Erkenntnisse haben wir in unserem neuen Buch „Hey, nicht so schnell!“ zusammengefasst (GABAL-Verlag, 2021).
Till Behnke über "Gründerentscheidungen"
Viele Gründer entscheiden aus dem Bauch. In der instabilen Startphase von Unternehmen geht dies oft nicht anders. Zwei Erkenntnisse aus unserem Gespräch mit dem Mehrfachgründer Till Behnke: Auch für Bauchentscheidungen gilt der Leitsatz „Hey, nicht so schnell!“ Und: Bauchentscheidungen helfen in der Frühphase einer Gründung. Später dann müssen aber Manager mit ihren Entscheidungstechniken ans Ruder.
Till, Du bist Gründer des Nachbarschaftsnetzwerks nebenan.de und der Spendenplattform betterplace.org. Nebenan.de leitest Du derzeit auch als Geschäftsführer. Du sagst, dass Du als Gründer anders entscheidest als in der Rolle eines Geschäftsführers oder Managers. Als Gründer setzt Du mehr auf Bauchentscheidungen. Hast Du ein Beispiel dafür?
Mit der Plattform nebenan.de wollen wir Nachbarschaft fördern. Die Plattform ist als lebendiges Werkzeug für Nachbarschaft gedacht; auch viele kleine Geschäfte und Kleinunternehmen nehmen daran teil. Sie werden sichtbar in ihrer Nachbarschaft und kommunizieren mit ihren Kunden in der Nachbarschaft. Vor einiger Zeit stand die Frage im Raum, ob wir auch großen Marken und Unternehmen Zugang zu unserer Plattform gewähren wollten, auch wenn sie nicht lokalen Mehrwert stiften ...
... was natürlich Geld in die Kasse gebracht hätte...
Geld und vor allem Wachstum. Wir haben den Breakeven ja noch nicht erreicht. Wir überlegen, größere, aber lokale Betriebe wie Lebensmittelmärkte oder Baumärkte hinzuzunehmen. Aber wir haben uns gegen Konsumentenmarken, Restaurantketten und den Online-Handel entschieden, und das war auch eine Bauchentscheidung. Ich war mir mit meinem Geschäftspartner Christian Vollmann nicht sicher, ob wir unsere Community von solch einem Schritt überzeugen konnten. Wir sind deshalb – trotz finanzieller Risiken – der Ursprungsidee unserer Gründung treu geblieben.
Till Behnke ist Gründer und Geschäftsführer von nebenan.de, dem sozialen Online-Netzwerk für Nachbarn, das Menschen in über 10.000 Nachbarschaften in Deutschland, Frankreich und Spanien verbindet. Zudem ist Till Gründer von Deutschlands größter Online-Spendenplattform betterplace.org, die bereits über 100 Millionen EUR in Kleinspenden für soziale Projekte in 180 Ländern gesammelt hat. Nach der Gründung von betterplace.org in 2007 hat Till die gemeinnützige Aktiengesellschaft geleitet, heute sitzt er ihrem Aufsichtsrat vor. Vor seinem Studium spielte Till Rugby für einen Club in Kapstadt und für die Deutsche Nationalmannschaft. Er ist Mitinitiator des seit 2017 alle zwei Jahre im Münchner Olympiastadion ausgetragenen 7er-Rugby Turniers “Oktoberfest Sevens”, bei dem sich die besten Nationalteams der Welt messen. Till lebt mit seiner Familie in Berlin.
"Gründerentscheidungen sind und bleiben Herzblutentscheidungen."
Herzblutentscheidung versus Betriebswirtschaft. Hätte in dieser Situation ein Manager anders entschieden?
Das kommt darauf an. Ein kurzfristig denkender Manager hätte wahrscheinlich eine andere Entscheidung getroffen. Doch unser Geschäftsmodell ist sensibel. Ein nachhaltig orientierter Manager, der hier langfristig wirken will, wäre wahrscheinlich damit ebenso sensibel umgegangen wie ich als Gründer. Er – oder sie – hätte verstanden, dass das Modell nicht dauerhaft mit zu großen Partnern funktioniert.
Ein Gründer entscheidet also ähnlich wie ein langfristig orientierter Manager?
Gute Frage! Einerseits: Geht es um langfristigen finanziellen Erfolg, stehen finanzieller Erfolg sowie gute, nachhaltige Entwicklung überhaupt nicht im Widerspruch. Andererseits: Ich glaube, dass Manager solche Entscheidungen vielleicht leichter, klarer und rationaler treffen können als Gründer.
Weshalb klarer und rationaler?
Dies hängt mit dem Selbstverständnis des Gründers zusammen. Als Gründer stehe ich persönlich für das Unternehmen. Es ist wie ein Teil von mir. Spreche ich über die Haltung des Unternehmens, so spreche ich auch über das, wofür ich selbst stehe.
Und der Manager?
Ein eingesetzter Manager sieht dies alles nüchterner. Er oder sie arbeitet sich gründlich in eine Sache ein. Dann entscheidet er oder sie sachorientiert, d.h. unter Abwägung der Sachargumente – was ich übrigens für sehr wichtig halte. Solche Entscheidungen braucht man später.
"Manche Entscheidungen treffen Manager leichter, klarer und rationaler als Gründer."
Später? Wie dürfen wir dies verstehen?
In der frühen Phase einer Unternehmensgründung braucht es die Entscheidungen von Gründern. In der Anfangszeit ist vieles noch nicht vollständig geklärt: Etwa das Geschäftsmodell oder Fragen, wofür die Marke eigentlich steht und ob die Menschen die Innovationsidee überhaupt brauchen. Die Gründung ist noch instabil. Da kann man das Unternehmen nicht einfach mit einem Prozesschart beschreiben und präzise steuern. Man kann nicht exakt prognostizieren, wie sich eine Entscheidung auswirkt. In dieser Zeit spielt Bauchgefühl eine große Rolle. Es gibt vielfach noch nicht genug Daten, auf die man bei Entscheidungen setzen kann.
Weil die Umgebung der Entscheidung hochdynamisch ist?
Unter anderem. Man weiß nicht genau, wie das Unternehmen auf wichtige Entscheidungen reagiert. Man kann nur schwer abschätzen, was passiert, wenn man an einer Stellschraube dreht. In dieser Zeit sind Gründer gefragt, Entscheidungen zu treffen und den Puls des Unternehmens zu fühlen. Je mehr Stabilität dann kommt und je besser Dinge planbar sind, desto mehr kann rational entschieden werden auf Basis von Daten, die es dann auch gibt. Dann braucht man Bauchentscheidungen immer weniger. Dann kommt die Zeit für Manager mit ihrer Methodik.
Viele Entscheider verbinden mit dem Begriff „Bauchgefühl“ vor allem berufliche Erfahrung. Was genau verstehst Du unter diesen Begriff?
Berufserfahrung ist gut, aber ich erweitere dies um den Begriff „Prägung“. Zu dieser Prägung zählte ich auch persönliche Lebenserfahrung und die persönliche DNA. Je mehr Menschen mit unterschiedlicher Prägung und Erfahrung an Bauchentscheidungen beteiligt sind, desto besser werden diese Entscheidungen.
"In der frühen Phase lässt sich ein Unternehmen nicht über Prozesscharts beschreiben und steuern."
"Je mehr Daten und Fakten vorliegen, desto weniger braucht es Bauchentscheidungen."
Also – es geht um Diversität?
Ja. Wer ein Startup auf dem weißen Papier gründet, sollte dies mit Menschen tun, die ganz anders sind als er selbst. Man hat quasi verschiedene Bäuche, die unterschiedlich ticken und sich trotzdem auf eine Lösung einigen können.
Neben der Diversität – worauf achtest Du noch, wenn Du als Gründer Bauchentscheidungen triffst?
Bei wirklich existentiellen Entscheidungen ist das erste Bauchgefühl oft nicht das Beste. Wir haben viele Bauchentscheidungen in mehreren Runden gefällt. In einigen Fällen wollte mein Geschäftspartner Christian sofort entscheiden. In anderen Fällen ich. Der andere hat dann gebremst und weitere, der ersten Bauchentscheidung entgegengesetzte Optionen ausgearbeitet. Also die „Gegen-Cases“ durchdacht. Falls Christian und ich nicht sofort entscheiden konnten, haben wir das Team involviert.
Gegen-Cases durchdenken – ist das eine Strategie für eine Bauchentscheidung?
Es ist meine Routine geworden, mit Bauchentscheidungen umzugehen. Ich beleuchte die Vorteile dieser Gegen-Cases sowie die Nachteile unserer ursprünglichen Bauchentscheidung. Das bringt etwas Systematik in den Entscheidungsprozess. Wichtig finde ich, dass bei gemeinsamen Entscheidungen einer für den anderen mitdenken kann.
"Gute Bauchentscheidungen brauchen Diversität und bewusstes Dagegendenken."
Inwiefern?
Ich hatte oft das Gefühl, dass ich Christian bei operativen Entscheidungen mitrepräsentiere – oder er mich. Der eine von uns hatte nicht nur seinen eigenen Case im Kopf, sondern auch den des anderen.
Du hattest einen inneren Dialog mit ihm, auch wenn Du mit ihm nicht gesprochen hast?
Exakt! Allein und impulsiv aus dem Bauch heraus Entscheidungen zu treffen, das sollten wir ja nicht tun. Ich habe für solche Bauchgefühl-Entscheidungsprozesse ein Bild: ein altes Mischpult mit sechs Knöpfen. Die Knöpfe regulieren die Lautstärke des Inputs von verschiedenen Gruppen, etwa von Beratern, Researchern, Fokusgruppen oder Nutzern. Die wesentlichen Fragen bei einer Bauchentscheidung sind: Welche Stimmen versammle ich? Wie laut drehe ich welche auf?
"... ein Mischpult für Entscheidungsprozesse ..."
"Höre nicht auf das erste Bauchgefühl, höre auf das letzte!"
Das ist ja wie Musik – eine Orchestrierung …
In etwa! Würde man bei einer richtungsweisenden Entscheidung alle Knöpfe auf null stellen? Oder muss man immer alles hören, egal, wie laut oder leise es ist? Das ist die Frage. Wie gewichte ich die Stimmen, die über verschiedene Kanäle eintreffen? Wie mische ich sie ab? Ein rein rational arbeitender Manager würde vermutlich sagen: Du musst alle gleich laut hören.
Aber?
Dies bringt ein Problem mit sich: Viele gute Ideen in Deutschland bleiben auf der Strecke, weil man Angst vor der Umsetzung hat. Die Stimmen, die sagen “Das geht nie!”, sind sehr laut. Ich würde diese Stimmen nicht komplett ausblenden. Aber ich würde sie sehr viel leiser stellen.
Eingangs hast Du gesagt, dass rational entscheidende Manager mit ihrer Methodik die Gründer früher oder später ablösen sollten …
Besser früher als später! Natürlich, in der frühen Phase passen Gründer mit ihrer Art zu entscheiden sehr gut. Dann kommt aber irgendwann der Punkt, an dem ich sage: Gründer raus, Manager rein! Dann muss man die Gründerstimme leiser drehen an diesem Mischpult und den Manager-Werkzeugkoffer auspacken.
Wirklich so radikal? Gründer raus?
Als Gründer muss ich mich selbst abschaffen. Ich will säen als Gründer. Ernten können andere. Als Gründer kann ich gut meine Ideen verfolgen. Das macht mir Spaß. Irgendwann aber wird Ratio immer wichtiger. Wenn dieser Zeitpunkt gekommen ist, sollten besser andere entscheiden.
"Viele gute Ideen in Deutschland bleiben auf der Strecke, weil man Angst vor der Umsetzung hat."
"Als Gründer muss ich mich selbst abschaffen - besser früher als später."
Entwurf der Schriftfassung und Redaktion: Oliver Steeger
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